Die Ballade des Vergessens

[33] In den Lüften schreien die Geier schon,

Lüstern nach neuem Aase.

Es hebt so mancher die Leier schon

Beim freibiergefüllten Glase,

Zu schlagen siegreich den alten bösen Feind,[33]

Tät er den Humpen pressen...

Habt ihr die Tränen, die ihr geweint,

Vergessen, vergessen, vergessen?


Habt ihr vergessen, was man euch tat,

Des Mordes Dengeln und Mähen?

Es läßt sich bei Gott der Geschichte Rad,

Beim Teufel nicht rückwärts drehen.

Der Feldherr, der Krieg und Nerven verlor,

Er trägt noch immer die Tressen.

Seine Niederlage erstrahlt in Glor

Und Glanz: Ihr habt sie vergessen.


Vergaßt ihr die gute alte Zeit,

Die schlechteste je im Lande?

Euer Herrscher hieß Narr, seine Tochter Leid,

Die Hofherren Feigheit und Schande.

Er führte euch in den Untergang

Mit heitern Mienen, mit kessen.

Längst habt ihr's bei Wein, Weib und Gesang

Vergessen, vergessen, vergessen.


Wir haben Gott und Vaterland

Mit geifernden Mäulern geschändet,

Wir haben mit unsrer dreckigen Hand

Hemd und Meinung gewendet.

Es galt kein Wort mehr ehrlich und klar,

Nur Lügen unermessen...

Wir hatten die Wahrheit so ganz und gar

Vergessen, vergessen, vergessen.


Millionen krepierten in diesem Krieg,

Den nur ein paar Dutzend gewannen.

Sie schlichen nach ihrem teuflischen Sieg

Mit vollen Säcken von dannen.

Im Hauptquartier bei Wein und Sekt

Tät mancher sein Liebchen pressen.

An der Front lag der Kerl, verlaust und verdreckt

Und vergessen, vergessen, vergessen.


Es blühte noch nach dem Kriege der Mord,

Es war eine Lust, zu knallen.

Es zeigte in diesem traurigen Sport

Sich Deutschland über Allen.

Ein jeder Schurke hielt Gericht,

Die Erde mit Blut zu nässen.

Deutschland, du sollst die Ermordeten nicht

Und nicht die Mörder vergessen!


O Mutter, du opfertest deinen Sohn

Armeebefehlen und Ordern.

Er wird dich einst an Gottes Thron

Stürmisch zur Rechenschaft fordern.

Dein Sohn, der im Graben, im Grabe schrie

Nach dir, von Würmern zerfressen...

Mutter, Mutter, du solltest es nie[34]

Vergessen, vergessen, vergessen!


Ihr heult von Kriegs- und Friedensschuld – hei:

Der Andern – Ihr wollt euch rächen:

Habt ihr den frechen Mut, euch frei

Von Schuld und Sühne zu sprechen?

Sieh deine Fratze im Spiegel hier

Von Haß und Raffgier besessen:

Du hast, war je eine Seele in dir,

Sie vergessen, vergessen, vergessen.


Einst war der Krieg noch ritterlich,

Als Friedrich die Seinen führte,

In der Faust die Fahne – nach Schweden nicht schlich

Und nicht nach Holland 'chapierte.

Einst galt noch im Kampfe Kopf gegen Kopf

Und Mann gegen Mann – indessen

Heut drückt der Chemiker auf den Knopf,

Und der Held ist vergessen, vergessen.


Der neue Krieg kommt anders daher,

Als ihr ihn euch geträumt noch.

Er kommt nicht mit Säbel und Gewehr,

Zu heldischer Geste gebäumt noch:

Er kommt mit Gift und Gasen geballt,

Gebraut in des Teufels Essen.

Ihr werdet, ihr werdet ihn nicht so bald

Vergessen, vergessen, vergessen.


Ihr Trommler, trommelt, Trompeter, blast:

Keine Parteien gibts mehr, nur noch Leichen!

Berlin, Paris und München vergast,

Darüber die Geier streichen.

Und wer die Lanze zum Himmel streckt,

Sich mit wehenden Winden zu messen –

Der ist in einer Sekunde verreckt

Und vergessen, vergessen, vergessen.


Es fiel ein Schuß. Steif sitzen und tot

Kanoniere auf der Lafette.

Es liegen die Weiber im Morgenrot,

Die Kinder krepiert im Bette.

Am Potsdamer Platz Gesang und Applaus:

Freiwillige Bayern und Hessen...

Ein gelber Wind – das Lied ist aus

Und auf ewige Zeiten vergessen.


Ihr kämpft mit Dämonen, die keiner sieht,

Vor Bazillen gelten nicht Helden,

Es wird kein Nibelungenlied

Von eurem Untergang melden.[35]

Zu spät ist's dann, von der Erde zu fliehn

Mit etwa himmlischen Pässen.

Gott hat euch aus seinem Munde gespien

Und vergessen, vergessen, vergessen.


Ihr hetzt zum Krieg, frischfröhlichen Krieg,

Und treibt die Toren zu Paaren.

Ihr werdet nur einen einzigen Sieg:

Den Sieg des Todes gewahren.

Die euch gerufen zur Vernunft,

Sie schmachten in den Verlässen:

Christ wird sie bei seiner Wiederkunft

Nicht vergessen, vergessen, vergessen.

Quelle:
Klabund: Die Harfenjule. Berlin [1927], S. 33-36.
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